Die Tübinger HPSG-Forschung ist traditionell sowohl in
sprachwissenschaftlicher als auch in logischer und implementatorischer
Hinsicht grundlagenorientiert. Ihre zentralen leitenden Ideen lassen sich
über die Jahre hinweg am ehesten der theoretischen
Sprachwissenschaft zuordnen. Einem solchen Leitgedanken könnte man in der
HPSG etwa eine Herangehensweise gegenüberstellen, die sich
vordringlich an effizienter computationeller Verarbeitung
orientiert. Das Grundinteresse an Problemen der theoretischen Linguistik
schließt selbstverständlich andere Fragestellungen nicht aus,
hat jedoch merklichen Einfluss auf die Form der
linguistischen Analysen, die Wahl der mathematisch-logischen Werkzeuge
und den Stil der hier entwickelten Grammatikimplementierungen. Letzten
Endes liegt unserer Herangehensweise die Erwartung zugrunde, dass
ein tieferes Grundlagenverständnis zuletzt auch zur Entwicklung
angemessenerer und effizienterer sprachverarbeitender Systeme beitragen
sollte.
In der aktuellen Tübinger HPSG-Forschung gibt es eine ganze Reihe
von Schwerpunkten. In der Semantik steht weitgehend die
Weiterentwicklung der Lexical Resource Semantics (LRS) im
Mittelpunkt. Die LRS ist ein in der Merkmalslogik der HPSG
spezifizierter Semantikformalismus, welcher klassische
sprachwissenschaftliche Ideen zur semantischen
Bedeutungsrepräsentation in der Nachfolge Richard Montagues
verbindet mit Techniken der unterspezifizierten Semantik. Ziel ist
dabei eine Bedeutungszuordnung für sprachliche Zeichen, die
sowohl empirisch adäquat als auch computationell vielversprechend
erscheint. Derzeit geht es hierbei vor allem um den
phänomenorientierten Ausbau bestehender Semantikfragmente
verschiedener Sprachen als auch um die Weiterentwicklung des
LRS-Moduls unserer Grammatikimplementierungsplattform TRALE.
Teilweise bietet das Forschungsnetzwerk CoGETI
hierzu einen institutionellen Rahmen.
Das TRALE-System, welches wir zur Implementierung kleinerer und
größerer HPSG-Fragmente in Forschung und Lehre verwenden, wird
in Zusammenarbeit mit Gerald Penn von der Universität Toronto
ständig fortentwickelt. Diese Bemühungen zielen vor allem auf
eine möglichst theorienahe Implementierung von Grammatiken bei
gleichzeitiger größtmöglicher Effizienz der Verarbeitung.
Das Bestreben, Grammatiken soweit wie möglich in der Form zu
implementieren, in der sie in der theoretischen Linguistik logisch
spezifiziert werden, steht nicht zuletzt auch im Zusammenhang mit unserer
Konzentration auf das eLearning, welches in den letzten Jahren bei der
Entwicklung von Lehrmaterialien und Lernsoftware stark im Vordergrund stand.
Im Rahmen des eLearning haben wir umfangreiche Kursmaterialien
geschaffen, welche Fragen der logischen Grundlagen der HPSG, der
linguistischen Fundierung der dabei verwendeten mathematischen
Konzepte, der computationellen Umsetzung rein logisch spezifizierter
Grammatiken und genuin linguistischer Analyseprobleme eng miteinander
verzahnen. Unter Verwendung des Brückenkonzepts der Feature
Structures als Schaltstelle zwischen diesen ihrer Herkunft nach
verschiedenartigen Themenstellungen geht es vor allem darum, mit
Hilfe geeigneter Softwarewerkzeuge, welche viele Aspekte der
logischen Spezifikation von Grammatiken graphisch und interaktiv
umsetzen, bei Studierenden frühzeitig ein tiefergehendes
Verständnis des interdisziplinären Charakters der HPSG zu
wecken und so auch den kreativen Umgang mit den unterschiedlichen
Bestandteilen der HPSG als einer linguistischen Theorie zu fördern.
Unsere Kurs- und Softwarematerialen zu Grammar Formalisms and Parsing
werden aktiv weiterentwickelt und erfahren eine zunehmende Integration
in aktuelle Forschungsfragen.
Eine Schnittstelle zwischen korpuslinguistischen Methoden,
Grammatikentwicklung und aktuellen empirischen Problemen bildet
schließlich das
SFB-Projekt
Distributionsidiosynkrasien: Korpuslinguistische Erfassung und
grammatiktheoretische Deutung. Dieses Projekt hat sich in der
Vergangenheit zunächst den sogenannten "unikalen Elementen",
einem Teilbereich der Idiom- oder Phraseologieforschung,
gewidmet. Dieser Themenbereich wurde inzwischen erweitert in Richtung der
Analyse negativ polärer Elemente als einer weiteren Form von
idiosynkratischen Kontextbeschränkungen lexikalischer
Elemente. Die semantische Natur dieses Phänomens erlaubt eine
Verbindung dieser Forschungsrichtung mit aktuellen Fragestellungen in der LRS
und mit der Grammatikimplementierung in TRALE.
Neben den in dieser notwendigerweise knappen Übersicht genannten
bestehen natürlich noch eine ganze Reihe weiterer
Forschungsinteressen in der Tübinger HPSG, die auch in neueren
Publikationen ihren Niederschlag gefunden haben. Interessierte seien
daher hier noch einmal auf die Tübinger
HPSG-Online-Bibliographie
hingewiesen, in der sich auch alle neueren Publikationen leicht finden
lassen.